Wild at Nature
Zu den Malereien und Papierarbeiten von Joachim Wörner
Der Ruf „Zurück zur Natur“ hallt schon seit über zwei Jahrhunderten durch die Hinterköpfe einer immer weiter industrialisierten und ausschließlich dem ökonomischen Fortschritt verpflichteten Gesellschaft. Irrtümlich dem französischen Philosophen, Komponisten und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zugeschrieben, der an vorderster Stelle seine Ideen einer von pädagogischen Zwängen befreiten „natürlichen Erziehung“ darzulegen beabsichtigte, gilt dieses Motto Vielen bis in die Gegenwart hinein als Kernsatz für eine allgemeine Abkehr von der sogenannten zivilisierten Gesellschaft zugunsten der Hinwendung zu einer für ursprünglich gehaltenen Naturumgebung und Lebenshaltung. Doch nur die wenigsten ihrer Verfechter vermochten es bisher tatsächlich, auf diese Weise auch das angestrebte eigene Inselglück zu finden.
Als über den Jahreswechsel 2020/2021 im Kunsthaus Zürich die Ausstellung Im Herzen wild zur Entwicklung der Malerei der Romantik in der Schweiz eingerichtet wurde, tauchten an der Schnittstelle von Klassizismus, Romantik, Symbolismus und anderer Epochenstile des 19. Jahrhunderts – neben den üblichen Verdächtigen wie Caspar David Friedrich, Johann Heinrich Füssli u.a. – ebenso Positionen zeitgenössischer Künstler auf, die einen bemerkenswerten Bogen über die Zeitläufte hinweg zu schlagen imstande sind. In der Videoarbeit etwa des niederländischen Filmkünstlers Guido van der Werve (*1977) ist ein einsamer Spaziergänger zu sehen, der traumverloren über das Eismeer wandelt, während ein riesenhaftes Eisbrecherschiff in seinem Rücken den vom Menschen zurückgelegten Pfad aufbricht und zerstört. Nicht umsonst mag man in diesem Zusammenhang einmal mehr an jenen Rousseau – selbst ein Romantiker vor der eigentlichen klassischen Romantik – zurückdenken und seine Les rêveries du promeneur solitaire, die er zwischen 1776 und 1778 als abschließenden Lebensbericht kurz vor seinem Tod verfasst hat.
Nichts weniger als weltabgewandt müssen so auch die Farblandschaften des Künstlers Joachim Wörner heute wirken. Seine Malereien und Arbeiten auf Papier stellen individuelle, aber überzeitliche Anverwandlungen aufmerksam gesehener und intensiv empfundener Natur dar. Sie sind kein ideologisches Gegenbild zu einer Alltagswirklichkeit, die von der zunehmenden Technisierung unserer Lebenswelt und grassierender Umweltzerstörung geprägt erscheint. In ihrem durch und durch gestischem und intuitiven Duktus sind sie im besten Sinne vielmehr ein Mitbild sowohl von Gegenwart als auch von Gegenwärtigkeit.
Wild im Herzen – und wild at nature gleichermaßen – bannt Joachim Wörner diese Farb- und Seelenlandschaften auf Papier, Leinwand und andere, starre Malgründe. Dabei folgt er Strukturenbildungen, die häufig genug die Natur selbst vorzugeben pflegt und die er auf ausgedehnten Erkundungsgängen bisweilen in fotografischen Skizzen festhält: besondere Gesteinsformationen, geotektonische Gegebenheiten, pflanzliche Phänomene, unter jahres- und tageszeitabhängigen klimatischen Wechseln von Licht und Farbe in der nachfolgenden Atelierarbeit neu interpretiert. Nie sind sie jedoch bezeichenbare Topografie! Weisen die Kohlezeichnungen und andere Papierarbeiten noch summarisch gefasste landschaftliche Anmutungen auf, schreiben die in die Maloberfläche eingebrachten Schlieren, Rakelspuren, Kritzeleien schon ganz und gar selbstsinnige Landschaften vor sich hin. Ausfahrende Schwarzform hier, fraktales Lineament dort, sie dienen dem Leuchten der Farbe als Halt. Den äußeren Erscheinungen des Gesehenen nämlich folgen die – je nach persönlicher Verfasstheit und der spezifischen Arbeitssituation – modulierten inneren Temperamente von Linie und Fläche, der Farbsetzungen und Lichtführung, der Übergänge von Hell und Dunkel, den erfühlten, sich ausbreitenden Weiten und Verdichtungen über die gesamte Bildanlage nach und nach.
Die Arbeiten von Joachim Wörner allerdings als feststehende Bildfindungen begreifen zu wollen, fällt zugegebenermaßen schwer. Die meist fließenden Verläufe mehrfach verschichteter oder aber durchscheinend lasierter Farbseen, das irisierende Flirren überblendeter Lichter, mal grün gischtende Dschungel, mal magmatischer Tremor unter den nachtdunklen Liniengerinseln oder gezackt aufgesprungener Erdspalten, in Untiefen angesetzte Horizonte oder all over feuerdräuende Himmel – immer bleibt eine schier unbezähmbare Dynamik und die Offenheit der Wahrnehmung gewahrt. Über das allein schon beeindruckende Optisch-Visuelle hinaus ist hier geradezu ein Aufwallen an synästhetischen Sinneseindrücken evoziert, ein überbordendes Hören und Schmecken und Riechen und Fühlen von Farbe und von Licht.
Clemens Ottnad,
Kunsthistoriker