Farbwelten-Landschaften
Rudolf Greiner
Joachim Wörner, 1950 im Odenwald geboren, besuchte in den 70er Jahren die Kunstakademie in Stuttgart und studierte Kunstgeschichte an der dortigen Universität, bevor er sich dauerhaft in der Region niederließ, um dort künstlerisch zu arbeiten. Diese Stationen werden nicht nur erwähnt, weil sie zur Biografie des Künstlers gehören, sondern weil sie eine Wirkung auf seine Kunst entfaltet haben. Der Genius loci, der Ort, das Ambiente, die Umwelt, die Einflüsse sind das, was der Künstler vorfindet oder sucht, um sich inspirieren zu lassen. Die Berge und Erhebungen des Odenwalds und der Schwäbischen Alb bieten ihren Besuchern vielfältige Weit- und Panoramablicke.
Schon früh hält Joachim Wörner diese Ausblicke fotografisch fest. In beiden Gegenden ist auffällig, wie die Erde ihr Inneres nach außen kehrt. Die kristallinen Gebirge des Odenwalds ähneln einem Flickenteppich und offenbaren dabei Basaltvulkane, Dolomite mit vielfältigen Erzadern, Felsenmeeren und Tropfsteinhöhlen. Auch die Ölschieferschichtungen mit den darin enthaltenen versteinerten Lebewesen des Schwäbischen Meeres gewinnen die Aufmerksamkeit des Künstlers und werden in zahlreichen Skizzenbüchern festgehalten.
In diesen Naturlandschaften liegen die Ursprünge seiner Arbeit, aus denen er Anregungen und Kraft zieht. Kunst ist dagegen die Stadt, die Akademie, die Universität. Stuttgart ist Anfang der 70er Jahre, in denen Joachim Wörner dort studiert, eine Hochburg der ungegenständlichen Malerei und der reinen Abstraktion, die sich international als Moderne etabliert hatte: Baumeister, Sonderborg, Pfahler, Hajek. Informel, Farbfeldmalerei und Hard Edge hatten die emotive und materielle Qualität der bloßen Farbe und freien Form entdeckt und zum alleinigen Bildgegenstand und der alles beherrschenden Kunstrichtung gemacht.
Es ist die künstlerische Leistung Joachim Wörners, diese Moderne auf schlüssige und in überzeugender Weise an das Naturgegenständliche heranzuführen. Damit gehört Joachim Wörner zu der ersten Generation von Künstlern, die Ende der 70er Jahre das Diktat der reinen Form und Farbe durchbrechen und dem Gegenstand eine neuartige Rolle im Bild und in der Kunst erobern. Abstraktion und Naturwiedergabe treten in ein spannungsvolles Wechselspiel. Der Betrachter hat plötzlich die Freiheit, das eine oder andere zu sehen.
Er wird Mitautor, der die Bildvorgänge auf eigene Weise betrachtet, bestimmt und vollendet. Joachim Wörner entwickelt in diesem künstlerischen Umformungsprozess eine ganz eigene Bildsprache. Ihr Wesen lässt sich an einem Kontrast am besten erläutern. In Buchen, an dem Ort, wo Joachim Wörner geboren ist, arbeitet bis 1993 der Künstler Anselm Kiefer.
Sein internationales Ansehen macht eine Auseinandersetzung mit ihm notwendig, zumal auch Anselm Kiefer, geprägt durch den Odenwald, sich in Bildzyklen, wie "Märkische Heide" oder "Märkischer Sand", mit der Natur und der Landschaft auseinandersetzt. Er akzentuiert ganz andere kunsthistorische Entwicklungen. Als Schüler von Joseph Beuys akzentuiert Anselm Kiefer konzeptionelle gesellschaftspolitische Ideen und arbeitet, wie die aus dem Dadaismus entwickelte arte povera, Gegenstände und Materialien in seine Landschaftsbilder ein: Sand, Rupfen, Haare, Stroh, Blei, Kleiderreste. Daraus entstehen "Geschichtslandschaften", die dem Grauen faschistischer Wurzeln und Denkweisen nachspüren.
Aus seiner jüngsten Ausstellung in London ließ Anselm Kiefer sogar eigene Werke entfernen, weil sie ihm zu "schön" waren, um die Abgründe deutschen Denkens und deutscher Kunst auszudrücken. Wie bereits angedeutet, verweist Joachim Wörner auf andere Strömungen der Malerei. Zunächst einmal beschränkt er sich mit wenigen Ausbruchsversuchen auf die zweidimensionale Malfläche und Acrylfarben. Die meisten seiner Bilder haben keine Titel.
Manche heben Farben hervor: "Das kleine Blaue", "Rotes Feld", "Blaues Quadrat", "Blaue Figur", "pink sky", "Gelb mit Struktur". Es ist, als wolle Joachim Wörner vermeiden, dass der Betrachter vorschnell in seiner Sehweise geführt und eingeschränkt wird. Wenn man ein Bild ohne Titel von Joachim Wörner zum ersten Mal betrachtet, kann man sich nur an den Farben, an ihrer Zusammenstellung, ihrem Fluss, ihrer Ausdehnung, Trennung und Verschmelzung, ihrer Schwere oder Leichtigkeit orientieren. Das sind Bilder, auf denen sich Farbflächen und Farbgerinnsel in dramatischer Auseinandersetzung von Behauptung und Vergehen befinden.
Seine Bilder sind eigenwillige Farbkörper, jenseits von herkömmlichen bildnerischen Konstruktions- und Farbharmonieprinzipien. Der Künstler spürt der Eigendynamik der Farbe nach: Das Gelb frisst das Blau. Das Rot zeigt, dass der Künstler lebt. Die Farbgerinnsel, die seine Bilder durchziehen, sind gleichsam die Adern und Nerven des Künstlers, die alles mit Energie versorgen.
Der Künstler ist in eine Auseinandersetzung mit der Farbmaterie verstrickt. Er kämpft mit ihr, lässt sie gewähren und fließen, um sie andererseits zu zügeln, zu verdichten und zu schichten. So gesehen, entwickeln seine "Farbkörper" die Farbfeldmalerei eines Serge Poliakoff weiter. Manche seiner Bildteile erinnern an die schwebenden Farbgebilde eines Mark Rothko oder Gotthard Graubner, an die fließenden Farbverläufe eines Paul Jenkins oder an die abstrakten Farbbegegnungen eines Gerhard Richter.
Der Malprozess von autonomen Farben ist in Joachim Wörners Bildern allerdings nur die eine Wirklichkeit. Eine andere Wirklichkeit folgt aus der Gleichsetzung von Farbmaterial mit Landschafts- und Naturkräften. Ein "Rotes Feld" bedeutet in Joachim Wörners Bildern nicht nur ein roter Farbfleck, sondern ist gleichzeitig auch als naturhaftes Feld, als Wiese, Erde oder Plateau deutbar. Aus weißen Farbflächen werden "Winter" - Bilder.
Alle Farben und Formen kippen so in Landschaftliches. In Titeln wie "Fels", "Wand", "Strom", "Moos", "Felsenmeer", "Lichtung", "Schatten", "Dickicht" oder "Bodenlos", "Horizont" werden alle Aggregatzustände von Natur angesprochen: Flüssiges und Festes, Geschichtetes und sich Auflösendes. Landschaftliches wird aus einer großen Distanz betrachtet, so als befände sich der Maler auf einer Aussichtsplattform. Dieser "Panoramablick" verhindert eine wieder- erkennbare Gegend, wie wir sie aus den realistischen Landschaftsdarstellungen gewohnt sind.
"Landschaft", wie viele Bilder von Joachim Wörner auch bezeichnet sind, thematisiert keine spezifische Landschaft, sondern die Schöpfung, die Naturkräfte insgesamt: Erde und Himmel, Wasser und Wolken, Licht und Schatten und immer ein brennendes leuchtendes Feuer. Es ist die Ansicht der Welt von einem erhabenen Standpunkt aus gesehen mit einem umgedrehten Fernrohr. Es sind die Erinnerungen an die Fotos, die er von seinen Gipfelwanderungen mitgebracht hat. Der erhöhte Standpunkt und die dadurch erzeugte Distanz sind allerdings nur die eine Seite, die der Betrachter wie der Künstler einnehmen kann.
Die Bilder Joachim Wörners beziehen ihre Spannung auch daraus, dass die beschriebene Distanz gleichzeitig in übergroße Nähe kippen kann, so als würde man in einem Fernrohr die größte Vergrößerung einstellen. Wie in dem Bildtitel "Fels und Höhle" angedeutet ist, kann sich der Betrachter einmal auf dem Fels außerhalb des Geschehens in weiter Entfernung befinden oder in der Höhle, in der er aus großer Nähe den Erdschichtungen und geomorphen Strukturen, den Mikroorganismen, unterirdischen Rinnsalen und "Wasserwelten" folgt. Zwischen Farbfeldmalerei und Landschaftsmalerei, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Innen und Außen, zwischen Vertikalem und Horizontalem kann der Betrachter hin- und herspringen. Nichts ist mehr in gewohnten Verhältnissen verortet oder gesichert.
Alles ist "In der Schwebe", wie ein Bildtitel diese neue Raumerfahrung ausdrückt. "Bodenloses" Farbspektakel oder Naturgewalten? Ein spannungsvolles Wechselspiel ist in Gang gesetzt, das ganz im Sinne von Novalis und seiner "erweiterten Autorenschaft" dem Betrachter ein Mitgestaltungsrecht einräumt, das diese Bilder nicht nur ins Vielfältige, sondern geradezu in unendliche Deutungsmöglichkeiten führt. Erlebnisse, Gefühle und Betrachtungen werden ermöglicht, die vor diesen Bildern nicht möglich waren. Die Natur, die Landschaft und der Betrachter formen sich mit diesen Bildern neu.
Die Ineinandersetzung von Kunst und Natur hebt die Gegensätze zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit auf. Ein Fenster ist aufgerissen, durch das die Innenwelt nach außen und die Außenwelt nach innen dringen kann. Dies geschieht einerseits dadurch, dass es sich hier um keine Rückkehr zum Gegenstand und zur Landschaft handelt, weil die Natur schon immer beteiligt war und andererseits mit einem kunsthistorischen Wissen über die Landschaftsmalerei. Mit einigen Bildtiteln verweist Joachim Wörner auf die deutsche Renaissancemalerei Anfang des 16. Jahrhunderts.
"Weltenlandschaft" ist zugleich auch eine andere überlieferte Bezeichnung für Albrecht Altdorfers "Alexanderschlacht" (1529). Dieses Bild gilt als eine der ersten Landschaftsdarstellungen diesseits der Alpen. In der übergroßen Naturdarstellung sind kämpfende Heere verschwindend klein und im Schatten der Berge dargestellt. Mit dem Titel "Nach H." ist wohl Wolf Huber gemeint, ein Zeitgenosse von Altdorfer.
Joachim Wörner bezieht sich damit auf die so genannte "Donauschule" und die Geburtsstunde der deutschen Landschaftsmalerei. Er übernimmt nicht deren Inhalte oder Motive. Bei genauerem Vergleich entdeckt man aber, dass er deren Bildstrukturen, ihren erhöhten Malstandpunkt und die 'Lichtorgien' wieder aufgreift. Bei diesen Transformationen entstehen erstaunlich neue Erlebnisinhalte.
Aber nicht nur die Renaissance hat Joachim Wörner im Fokus, sondern auch die deutsche Romantik und vor allem Caspar David Friedrich. Mit Bildtiteln wie "Blaue Figur" oder "Alter Ego" macht er auf ein bahnbrechendes Umdenken in der Wahrnehmung der Natur aufmerksam. Der Mensch steht als Betrachter vor der Natur. Er ist nicht Beteiligter, sondern Zuschauer.
Hatte Wilhelm Tieck 1798 in "Franz Sternbalds Wanderungen" noch geschrieben: "Lass Dich manchmal von der guten, freundlichen Natur anwehen", so verschiebt bereits Caspar Friedrich diese innige romantische Haltung zur Natur in ein unfassbares Staunen über die Größe und Kraft der Natur, gegenüber der der Mensch, wie in seinem Bild "Mönch am Meer", ohnmächtig klein erscheint. Der Weg in die Natur scheint dem Menschen in den Bildern Caspar David Friedrichs versperrt. Vor dem Betrachter liegt sozusagen ein Abgrund. Der Bildvordergrund entwickelt sich nicht mehr kontinuierlich über den Bildmittelgrund zum Bildhintergrund.
Mit dieser Wahrnehmung der Störung der Raumkontinuität ergeben sich in Bezug auf Joachim Wörners Bilder neue Einblicke und Deutungsmöglichkeiten. Seine Einschnitte, Abbrüche und Störungen einer gewohnten Raumkontinuität sind Kompositionsprinzip seiner Bilder. Zum Bildmittelpunkt hin triften und verdichten sich die Farbplatten. Wie in einem Sog werden sie verwirbelt und zu neuen Formationen von Bild zu Bild verändert.
In diesen Verschiebungen und Verläufen hat der Mensch keinen Platz mehr. Man kann daraus die Folgerung ableiten: Die Natur und ihre Kräfte haben sich in den Bildern Joachim Wörners des Menschen entledigt. Hier wird der Mensch nicht mehr von der Natur "angeweht", sondern verschlungen. Die Natur hat sich vom Menschen gelöst.
Sie ist fremdartig geworden. Joachim Wörner vermeidet den individuellen Pinselstrich. Er schichtet die Farben, bis sie schwer werden oder verdünnt sie, bis sie sich von Materie in Atmosphäre verwandeln. Die Landschaft wird durch diese Maltechnik un- oder überpersönlich, fremdartig kalt und sinnlich zugleich.
Ein Erschrecken vor den Weiten und der Dichte wird hervorgerufen. Aber alles läuft in einem leuchtenden Feuerwerk von Farben und Formen ab, die ein faszinierendes Staunen über die Schönheit der Farben und der freigesetzten Kräfte auslösen. Schönheit im Erschrecken. So gesehen erhalten die Bilder von Joachim Wörner visionären Charakter. Sind seine Farbweltenlandschaften, Welt- und Malereiuntergänge in letzter Pracht und Schönheit, hell erleuchtet, bevor es dunkel wird?